Deutschland braucht den Reformschub. Kanzler Merz will echte Reformen. Aber die SPD muss zustimmen. Vizekanzler Klingbeil und Arbeitsministerin Bas haben die Wahl: Lassen sie sich ein auf die teils schmerzhaften aber wachstumsfördernden Schritte, die das Land braucht - oder bleiben sie bei den alten Positionen ihrer Partei, die in einem schnell alternden Land nicht mehr haltbar sind? Mit dem Ersatz des Bürgergeldes durch die Grundsicherung hat die SPD bereits einen großen Schritt in die richtige Richtung gewagt.

Volkswirtschaft - Trends | 13. Okt 2025

Klingbeils Wahl

Lesedauer: 10 MIN

Aber ihr Reformwille bleibt noch weit hinter dem zurück, was erforderlich wäre, um den Standort Deutschland nachhaltig zu stärken und den gefährlichen Anstieg der Lohnnebenkosten zu beenden. Wahrscheinlich wird die SPD angesichts sinkender Umfragewerte zwar weitere Reformen akzeptieren. Diese dürften jedoch nach jetzigem Stand bei weitem nicht ausreichen, um Deutschlands Standortprobleme zu lösen. Nach der Bundestagswahl 2029 würde die nächste Regierung diese Aufgabe dann unter politisch weit schwierigeren Bedingungen angehen müssen – es sei denn, Klingbeil und Bas treffen jetzt die richtigen Entscheidungen. Als Finanzminister trägt Klingbeil eine besondere Verantwortung.

Reformen für Deutschland – die Zeit drängt

Deutschland braucht den Reformschub. Und zwar bald. Wenn sich die Koalition aus Union und SPD nicht zur Wirtschaftswende durchringen kann, könnte das Land im Herzen Europas nach den nächsten Bundestagswahlen Anfang 2029 in weit größere Schwierigkeiten geraten. Weniger als acht Monate nach der letzten Wahl vom 23. Februar deuten die Umfragen darauf hin, dass die AfD ihren Anteil an den Sitzen im Bundestag bei einer hypothetischen Neuwahl von 24 % auf 29 % steigern könnte, während die Linkspartei von 10 % auf 13 % der Abgeordneten zulegen könnte.

Umfragen umgerechnet in Sitzanteile im Bundestag

Geschätzte Sitzanteile der verschiedenen Parteien im Deutschen Bundestag, in %. Punkte: Ergebnisse der Wahlen vom 23. Februar 2025.
Quellen: Dawum, Berenberg.

Wenn die Parteien der demokratischen Mitte nicht die notwendigen Reformen schaffen, um diesen Trend zu brechen, könnten sie 2029 ihre Mehrheit im Bundestag verlieren. Da eine Zusammenarbeit mit der AfD für sie tabu bleibt, wären sie dann gezwungen, mit der Linkspartei zusammenzuarbeiten. Diese fordert jedoch das genaue Gegenteil der Reformen, die Deutschland braucht, um sein Wachstum dauerhaft zu beleben. Darüber hinaus wird es aufgrund des zunehmenden Anteils älterer Wähler mit der Zeit immer schwieriger werden, die steigenden Kosten für Renten, Gesundheitsversorgung und Altenpflege in den Griff zu bekommen. Es ist besser, jetzt zu handeln.

Mit dem Lockern der Schuldenbremse im März dieses Jahres hat sich Deutschland den nötigen Spielraum verschafft, um seine Verteidigung zu stärken und seine marode Infrastruktur zu sanieren. Das war ein guter Anfang. Der willkommene Nachfrageschub könnte sogar zu mehr Innovationen führen, da mehr Geld für Forschung und Entwicklung zur Verfügung steht und die Logistik zuverlässiger werden kann. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob sich die Regierung auch zu energischen angebotsorientierten Reformen durchringen kann. Nur so kann sie das Wachstumspotenzial des Landes so weit steigern, dass es den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft in einer geopolitisch instabilen Welt gerecht werden kann.

Auf die SPD kommt es an

Um zu beurteilen, ob Deutschland die Wende schaffen kann, richten die meisten Beobachter ihr Augenmerk auf Bundeskanzler Friedrich Merz. Natürlich spielt er eine wichtige Rolle. Die Schlüsselpersonen, die darüber entscheiden werden, ob die aktuelle Koalition erfolgreich sein wird oder wie ihre Vorgängerin aus SPD, Grünen und FDP in den Jahren 2021–2024 scheitern wird, sind jedoch die SPD-Vorsitzenden Vizekanzler Lars Klingbeil und Arbeitsministerin Bärbel Bas.

Merz und große Teile der CDU/CSU wollen durchgreifende Reformen. Die Frage ist, ob sie sich mit ihrem Koalitionspartner SPD einigen können. Anders ausgedrückt: Werden Klingbeil und Bas die notwendigen Reformen verwässern oder sogar blockieren – oder werden sie ihre Position nutzen, um die etwas desorientierte SPD dazu zu bewegen, die Veränderungen mitzutragen, die Deutschland braucht? Das ist ihre Wahl. Als Finanzminister (und Vizekanzler) kommt Klingbeil dabei eine Schlüsselrolle zu.

Konsens für Reformen – eine deutsche Tradition

Ein Reformkonsens zwischen den staatstragenden Parteien Mitte-rechts und Mitte-links hat in Deutschland Tradition. Im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich und den USA funktioniert Deutschland im Konsens. Dies ist zum Teil eine Frage der Kultur, zum Teil aber auch eine Notwendigkeit. Derzeit regieren die beiden (einst) großen Volksparteien ohnehin gemeinsam. Selbst wenn dies in früher nicht der Fall war, brauchte die jeweilige Regierung oft die Stimmen der größten Oppositionspartei, um wichtige Änderungen im Bundesrat, durchzusetzen. Fast alle maßgeblichen Reformen der letzten Jahrzehnte waren das Ergebnis eines Konsenses zwischen Mitte-rechts und Mitte-links. Beispiele hierfür sind:

  • die Reformen der „Agenda 2010” von 2003 bis 2005, die Deutschland vom „kranken Mann Europas” zum Wachstumsmotor des Kontinents machten, bis dem Land Ende der 2010er Jahre der Erfolg zu Kopf stieg und Trägheit und Selbstzufriedenheit die Oberhand gewannen;
  • die schrittweise Anhebung des Rentenalters von 65 auf 67 Jahre, die eine große Koalition in 2006 auf Betreiben von Franz Müntefering (damals Arbeitsminister der SPD) beschlossen hat;
  • die Schuldenbremse im Grundgesetz 2009;
  • das Lockern dieser Fiskalzwangsjacke im März 2025.

Neue Herausforderungen

Heute ist die wirtschaftliche Lage Deutschlands weit weniger düster als im Jahr 2003. Damals brachte der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder die SPD und die Grünen endlich dazu, die meisten der Arbeitsmarkt- und Sozialreformen mitzutragen, welche die Opposition bereits fünf Jahre lang gefordert hatte. Schröder stellte so den erforderlichen Konsens für die Reformen der „Agenda 2010” zu einem Zeitpunkt her, als Deutschland immer mehr Arbeitsplätze verlor, insbesondere an seine osteuropäischen Nachbarn. Da die Massenarbeitslosigkeit von in der Spitze über fünf Millionen die Staatskasse immer mehr belastete, gehörten die öffentlichen Finanzen Deutschlands zu den schlechtesten in der Eurozone.

Obwohl die Arbeitslosigkeit auf drei Millionen angestiegen ist, verzeichnet Deutschland heute mit 33 % mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigten als Anfang 2006 einen neuen Rekord. Der deutsche Staatshaushalt zählt zu den solidesten in den Industrieländern. Das erklärt zumindest teilweise, weshalb die SPD heute den Veränderungsbedarf weniger akut empfindet als im Jahr 2003.

In zweierlei Hinsicht sind die Herausforderungen heute jedoch sogar gravierender als damals:

  • Die Babyboomer gehen bald in Scharen in den Ruhestand. Dadurch wird sich das Verhältnis zwischen Menschen im regulären Erwerbsalter (von 20 Jahren bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter) und Rentnern deutlich verschlechtern – von 3:1 im Jahr 2020 auf 2,4:1 im Jahr 2035. Dies wird das umlagefinanzierte Rentensystem und die öffentlichen Finanzen immer stärker belasten. Der Bundeshaushalt für 2025 sieht bereits Subventionen für das Rentensystems in Höhe von 121 Milliarden Euro vor. Das entspricht 24 % der Bundeseinnahmen und 2,7 % der Wirtschaftsleistung.
  • Die Handelskriege von Donald Trump, hohe Energiepreise und die Zunahme subventionierter Konkurrenz aus China erschweren es deutschen Unternehmen zudem, sich auf den globalen Märkten zu behaupten.^

Das Problem der SPD

Die Entscheidung, die Klingbeil und Bas treffen müssen, ist alles andere als einfach. Sie wissen, dass die SPD nach den Reformen von 2003 bis 2005 viele Anhänger verloren hat. In einigen Teilen Deutschlands ist die SPD heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Bei den Bundestagswahlen im Februar dieses Jahres ist die SPD mit nur 16,4 % der Zweitstimmen meilenweit unter die Marke von 35 bis 45 % oder mehr gefallen, die die Volksparteien CDU/CSU und SPD bis Anfang der 2000er Jahre erzielen konnten.

Inmitten eines raschen sozialen und wirtschaftlichen Wandels hat die Erosion traditioneller Milieus der SPD noch mehr geschadet als der CDU/CSU. Die großen Städte, Arbeiternehmer und protestantischen Gebiete bevorzugten traditionell die SPD, während ländliche, kleinstädtische und eher katholische Regionen zur CDU/CSU neigten. Mit Ausnahme der Generation im Rentenalter ist die SPD heute nicht mehr die Partei der traditionellen Arbeiterklasse; mittlerweile findet die AfD dort mehr Unterstützer die SPD. Stattdessen konkurriert die SPD nun zumeist mit den Grünen und der Linken um die begrenzte Wählerschaft der meist akademisch gebildeten Schichten vor allem in den Städten. Diese Wähler haben oftmals einen ganz anderen und eher linksliberalen Blick auf gesellschaftliche Fragen als die traditionellen Malocher, die mit Einwanderern um Arbeitsplätze und bezahlbaren Wohnraum konkurrieren.

Anders als ihre erfolgreichere dänische Schwesterpartei hat die deutsche SPD noch nicht erkannt, dass ein großzügiger Sozialstaat nur funktionieren kann, wenn die Anreize zur Arbeit stimmen und strenge Kontrollen Missbrauch und Masseneinwanderung in das Sozialsystem zu verhindern.

Eine pragmatischere SPD?

Teilweise ist die SPD offenbar bereit, ihren Kurs zu ändern, um verlorene Wähler zurückzugewinnen. Beispielsweise stärken die schweren Verluste gegenüber der AfD in den traditionellen SPD-Arbeiter-hochburgen im Ruhrgebiet bei den Kommunalwahlen im September diejenigen SPD-Bürgermeister, die sich mit pragmatischer Politik vor Ort gegen den Trend durchgesetzt haben.

Auch aus Angst, die Unterstützung der Arbeiternehmer noch weiter zu verlieren, hat die SPD auf Bundesebene widerstrebend einer strikteren Einwanderungspolitik zugestimmt. Sie ist offenbar auch bereit, härtere Maßnahmen gegen den Missbrauch des Sozialsystems zu ergreifen. Als Arbeitsministerin zeichnet Bars mitverantwortlich für den Ersatz des Bürgergeldes durch eine Grundsicherung mit mehr Sanktionen für arbeitsfähige Empfänger, die keine Arbeit annehmen wollen. Dazu kommen härtere Maßnahmen gegen kriminelle Banden, die Einwanderer mit gefälschten Angaben gezielt ins Sozialsystem schleusen.

Das kann jedoch nur der Anfang sein. Die SPD zögert noch, einer rationaleren Energie- und Klimaschutzpolitik zuzustimmen. Noch schwerer wiegt jedoch, dass sich SPD und CDU/CSU in ihrem Koalitionsvertrag von Anfang April nicht auf die dringend erforderlichen Reformen der Renten- und Pflegeversicherung einigen konnten. Stattdessen verständigten sie sich lediglich darauf, Kommissionen zu diesen Fragen einzurichten, bevor später, möglicherweise im Jahr 2026, Entscheidungen getroffen werden.

In einer alternden Gesellschaft sind die Renten- und Altenpflegesysteme von großer Bedeutung. Neben umfangreichen staatlichen Subventionen der Renten werden diese Systeme durch Sozialversicherungsbeiträge finanziert, die zu etwa gleichen Teilen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gezahlt werden. Wie in den 1990er Jahren schränken steigende Lohnnebenkosten (derzeit über 42% des Lohnes nach 39 % im Jahr 2020) die Kaufkraft der Arbeitnehmer ein und erhöhen die Arbeitskosten der Unternehmen. Ebenso wie hohe Energiekosten und übermäßige Bürokratie sind die Lohnnebenkosten ein Hauptgrund dafür, dass viele Unternehmen lieber im Ausland als im Inland investieren und Arbeitsplätze schaffen.

Klingbeil und Bas: Mehr Mut zu Reformen bitte

Sowohl Merz als auch Klingbeil und Bas wissen, dass die populistischen Protestparteien von rechts und links davon profitieren würden, wenn die jetzige Regierung sich nicht auf umfassende Reformen einigen kann. Klingbeil und Bas könnten Geschichte schreiben, wenn sie sich mit Merz auf den notwendigen Reformschub einigen könnten. Dafür müssten sie ihre eigene Partei überzeugen, dass es ohne umfassende und teils zunächst schmerzhafte Reformen nicht gehen wird. Bisher scheinen sie dazu nicht im erforderlichen Umfang bereit zu sein. Stattdessen hat die Koalition aus Union und SPD die Lage zunächst sogar noch verschlimmert, indem sie auf Wunsch der CSU die Rentenansprüche für Mütter mit Kindern, die vor 1992 geboren wurden, erhöht und wie von der SPD gefordert erneut den Nachhaltigkeitsfaktor aussetzt, der sonst das jährliche Tempo der Rentenerhöhungen gebremst hätte.

Unter Druck wird die SPD wahrscheinlich einigen Reformen zustimmen, mit denen Sozialleistungen durch die Hintertür etwas beschnitten werden könnten, vielleicht durch größere Zu- und Abschläge für Arbeitnehmer, die nach bzw. vor der Regelaltersgrenze in den Ruhestand gehen. Die Aktivrente (steuerfreier Verdienst von €2000 pro Monat nach dem offiziellen Renteneintrittsalter) hilft. Ein solches Konzept hatte ich vor mehr als zwei Jahren bereits vorgeschlagen. Aber es braucht eben auch angemessene Abschläge bei vorzeitigem Rentenbeginn. Dass die SPD einem höheren Renteneintrittsalter, das derzeit bis 2031 auf 67 Jahre steigen soll, oder deutlich geringeren Rentenerhöhungen zustimmt (keine „Haltelinie“ von 48% der Löhne), ist jedoch leider unwahrscheinlich.

In vielen anderen Punkten ist die Regierung Merz/Klingbeil auf dem richtigen Weg. So gibt Deutschland mehr für seine Verteidigung aus. Öffentliche Investitionen außerhalb des Verteidigungsbereichs sollen steigen. Die Sonderabschreibung von 30 % soll Unternehmen dazu anregen, Investitionen vorzuziehen. Der „Bauturbo“ wird es Kommunen erheblich erleichtern, Flächen für den Wohnungsbau auszuweisen. Die Aktivrente kommt. Dies sind nur einige Beispiele. Wir erwarten, dass die zusätzliche Staatsnachfrage und diese angebotsseitigen Reformen das Wachstum in Deutschland für die Jahre von 2026 bis 2029 auf 1 % oder mehr steigern werden. Es sei denn, Deutschland wird von einem erneuten Schock heimgesucht oder lautstarker Streit innerhalb der Regierung drückt auf die Stimmung und belastet damit Investitionen und Konsum des privaten Sektors.

Die Union ist der SPD bei der Schuldenbremse weit entgegengekommen. Bei der Erbschaftsteuer hat sie vielleicht ebenfalls etwas Spielraum. Aber jetzt kommt es vor allem auf die SPD an. Um Deutschland fit für die Zukunft zu machen, braucht das Land deutlich mehr wachstumsfördernde Reformen. In der alternden Gesellschaft tickt die Uhr. Wenn diese Regierung keine hinreichenden Ergebnisse liefert, wird eine neue Regierung nach den Wahlen 2029 vor einer noch weit schwierigeren Aufgabe stehen – möglicherweise in einer Situation, in der die populistischen Protestparteien noch stärker sind als heute. Lars Klingbeil und Bärbel Bas: Es liegt an Ihnen, dies zu verhindern. Sie haben die Wahl. Ihre Entscheidung für oder gegen einen Reformschub jetzt könnte den Ausschlag für die Zukunft Deutschlands geben.

Dr. Holger Schmieding
Chefvolkswirt
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